Ost-Mittel-Europa in der identitätspolitischen Herausforderung: Der Krieg um die Ukraine

Ost-Mittel-Europa in der identitätspolitischen Herausforderung: Der Krieg um die Ukraine

Organisatoren
Deutsche Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens e.V. (DGEPD); Deutsches Historisches Institut Warschau
Ort
Warschau
Land
Poland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
07.09.2023 - 08.09.2023
Von
Franziska Andrea Bartl, Technische Universität Chemnitz; Antonia Sophia Baraniuk, Technische Universität Chemnitz

„Keine 'Zeitenwende', sondern ein System, das hinter dem Überfall Putins auf die Ukraine stand“, das war das Fazit der Tagung „Ost-Mittel-Europa in der identitäts- und politischen Herausforderung: Der Krieg um die Ukraine“.

Im Rahmen einer internationalen Fachkonferenz, die vom 7. bis 8. September 2023 im Deutschen Historischen Institut Warschau als Kooperationsveranstaltung mit der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens stattfand, debattierten Historiker, Soziologen und Politikwissenschaftler aus Deutschland, Österreich, Polen, Tschechien, Litauen, Ungarn und Belarus diese These in fünf thematischen Sektionen vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftspolitischer Fragestellungen.

Eröffnet wurde die Konferenz von FRANK-LOTHAR KROLL (Chemnitz), der das grundlegende Verhältnis zwischen Russland und Europa unter dem Paradigma „Kooperation“ oder „Konflikt“ analysierte und dabei einen historischen Überblick über das europäisch-russische Beziehungsgeflecht bot. Sein Vortrag endete mit der offenen Frage „Hat man je gehofft, seitens des Westens und der Russen selbst, dass Russland zum Westen gehört?“. Zwei weitere Vorträge in Panel I, gehalten von PETER NITSCHKE (Vechta) und RAINER LISOWSKI (Bremen), griffen diese Frage auf. Nitschke näherte sich dieser Problematik unter theoretischen Gesichtspunkten, indem er ideengeschichtliche Hintergründe skizzierte. Lisowski hingegen stellte die Ergebnisse einer empirischen Studie vor, welche die Perspektive der russischen Spätaussiedler in Deutschland auf den Krieg in der Ukraine untersuchte. Beide vereinte das Fazit, dass die „Ruskie Mir“, die „russische Welt“, in ihrer autoritären Ausgestaltung mit einer Vielzahl von Bedeutungsmystiken – insbesondere hinsichtlich des Narrativs von „gut“ und „böse“ – aufgeladen sei, und auf diese Weise nicht für Russen in Russland, sondern auch für Russen im Ausland eine gewisse Wirkungsmacht entfalte.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch KERSTIN S. JOBST (Wien), die Panel III eröffnete und unter der Fragestellung „Unsere Krim/Krym nash?“ slawisch-russische Krim-Mythen vorstellte, die in ihrer literarisch-sakralen Ausgestaltung dann als Argumente für eine Zugehörigkeit der Krim zu Russland verwendet wurden. MILOŠ ŘEZNÍK (Warschau) und GEORGIY KASIANOV (Lublin) hingegen griffen gleichermaßen historische wie geschichtspolitische Fragestellungen auf, indem sie den Umgang der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission mit Russlands Aggression gegen die Ukraine sowie die russische historische Perspektive auf die Ukraine skizzierten.

Vor dem Hintergrund der Frage nach einem „West-Ost-Schema“ und seiner Politisierung fokussierte Panel II auf geopolitische Fragestellungen, stellte den Krieg gegen die Ukraine in den Kontext von Geschichte und einer neuen „Politik der Imperien“ (MICHAEL GEHLER, (Hildesheim)) und diskutierte, ob die Entwicklung Russlands als ein Gegenentwurf zum „Westen“ (LADISLAV CABADA, (Prag)) verstanden werden kann.

Inwiefern Kriege als historische Zäsuren wahrgenommen werden und wie die kollektive Erinnerung an das Geschehene zu identitäts- bzw. geschichtspolitischen Instrumenten werden können/kann? fragte Panel IV. Während TOMASZ STRYJEK (Warschau) in diesem Kontext einen Vergleich des „Vaterländischen Krieges“ (1991-1995) in der Geschichtspolitik Kroatiens und des Krimkrieges von 2014 in der Erinnerungspolitik der Ukraine anregte, fragte GEORG ZENKERT (Heidelberg) nach dem Umbruch von Machtkonstellationen im Kontext eines Krieges.

Im Zentrum der Tagung stand allerdings in Panel V die Vergleichsbetrachtung der identitätspolitischen Herausforderungen des Ukraine-Krieges für Europa, welche die jeweiligen Perspektiven ostmitteleuropäischer Staaten – darunter Rumänien, Polen, Litauen, Ungarn und Belarus – anhand gesellschaftlicher, kultureller und politischer Diskurse reflektierte und kontextualisierte. Dabei wurde deutlich, dass die Ukraine-Politik Ungarns und Belarus' erheblich von derjenigen der anderen Staaten abweicht, aber auch dort trotz grundlegender Gemeinsamkeiten signifikante Unterschiede identifizierbar sind. So skizzierte BŁAŻEJ BRZOSTEK (Warschau), dass die rumänische Perspektive auf den Krieg in der Ukraine auch zu einer Reflexion der eigenen kulturellen und nationalen Bedeutung führe, die sich mit identitätspolitischen Fragen wie beispielsweise der eigenen Sichtbarkeit verbinde. Die öffentliche Debatte in Litauen hingegen, wo die Politik stark von Belarus beeinflusst werde, so das Fazit des Vortrages von ŠARŪNAS LIEKIS (Kaunas), werde weniger von der gesellschaftspolitischen Perspektive auf den Krieg, sondern vielmehr von militärischen Aspekten dominiert. Polens Haltung zum Krieg in der Ukraine wurde von STEFAN GARSZTECKI (Chemnitz) vor dem Hintergrund des gemeinsamen historischen Erbes in Mittelalter und der früher Neuzeit sowie der konfliktreichen Vergangenheit beider Länder im 19. und 20. Jahrhundert („Aktion Weichsel“, „Völkermord in Wolyn“) betrachtet. Trotz eines in diesen historischen Auseinandersetzungen begründeten, grundsätzlich angespannten Verhältnisses beider Staaten habe Polen doch seit Beginn des Krieges zu den größten Unterstützern der Ukraine gezählt. Auf diese Weise, so ein Resümee Garszteckis, habe Russlands Aggression Polen und die Ukraine gewissermaßen wieder näher zusammengeführt. In diesem Kontext mündete die anschließende Diskussion in die nicht abschließend geklärte Frage, ob eine vergleichbare Unterstützung Polens für die Ukraine denkbar gewesen wäre, wenn der Gegner nicht der gemeinsame „Feind“ Russland gewesen wäre? Dementgegen stellte BENCE BAUER (Budapest) dar, dass Ungarn den russischen Angriffskrieg zwar verurteile und die Ukraine mit Lebensmitteln und Treibstoff unterstütze, Waffenlieferungen jedoch ablehne. Für Ungarn habe der Krieg nicht die Bedeutung eines Stellvertreterkrieges um liberale Werte wie für die westlichen Staaten Europas. Belarus hingegen, so resümierte der Vortrag von PAVEL USOV (Warschau) schließlich, realisiere als besetzter und russifizierter Staat vollkommen die geopolitischen Strategien Moskaus. Die Invasion Russlands in der Ukraine sei ohne die Unterstützung Lukashenkos so nicht möglich gewesen.

Abschließend näherten sich REINHARD MEHRING (Heidelberg) und MAXIMILIAN RAKER (Vechta) in Panel VI mit der Betrachtung der machtpolitischen Instrumentalisierung der Ideen Carl Schmitts (Ultranationalismus und Großraumkonzeption) und Thomas Hobbes‘ (Machtverlangen und Feindsetzung), dem Thema auf philosophischer Ebene, während BARTŁOMIEJ KRZYSZTAN (Warschau) eine Übersicht über die Rolle des südlichen Kaukasus im postkolonialen Diskurs über die postsowjetische Zeit im Kontext des Ukraine-Krieges gab.

Die Tagung erlaubte einen ersten Blick auf die komplexe Frage nach der sicherheits- und friedenspolitischen Selbstverortung der Staaten Ost- und Mitteleuropas vor dem Hintergrund des Kriegsgeschehens in der Ukraine. Dabei wurde deutlich, dass die jeweiligen öffentlichen Diskurse im Kontext von teils stark differierenden nationalen Ideologien und vor dem Hintergrund individueller historischer Erfahrungen nicht nur sehr unterschiedliche Schwerpunkte setzen, sondern in ihrer Konsequenz auch zu einer divergenten politischen Praxis führen. Dass hierbei lediglich der zum Zeitpunkt der Tagung aktuelle Zustand beschrieben werden konnte, dürfte selbstverständlich sein. So sind weitergehende Diskussions- und Forschungsbeiträge zum Thema zu erwarten, die dabei helfen können, das Gesamtbild der politikwissenschaftlichen, historischen und ideengeschichtlichen Diskussion um den Ukraine-Krieg zu vervollständigen.

Konferenzübersicht:

Panel I: Wahrnehmungsprofile

Frank-Lothar Kroll (Chemnitz): Russland und Europa: Kooperation oder Konflikt?

Peter Nitschke (Vechta): Putin und die Bekämpfung des Bösen: Die Rekonstruktion einer völkischen Weltanschauung

Rainer Lisowski (Bremen): Kampf im Kopf (?): Wie betrachten Spätaussiedler den Krieg Russlands – mit der Ukraine und dem Westen

Panel II: Das West-Ost-Schema

Michael Gehler (Hildesheim): Im Kontext von Geschichte und Politik der Imperien. Der Krieg gegen und um die Ukraine 2014–2023

Ladislav Cabada (Prag): Russland als Anti-West?

Panel III: Der Ukraine-Krieg und die „Geschichte des Zweiten Grades“

Kerstin S. Jobst (Wien): Unsere Krim/Krym nash? Slavisch-russische Krim-Mythen als „Argument“ einer russischen Krim

Miloš Řezník (Warschau): Die Deutsch-Ukrainische Historikerkommission
und Russlands Aggression gegen die Ukraine

Georgiy Kasianov (Lublin): Russische Historische Perspektive auf Ukraine und die Ukrainer (The Russian historical perspective on Ukraine and Ukrainians)

Panel IV: Der Krieg als große Veränderung

Tomasz Stryjek (Warschau): Der Vaterländische Krieg (1991–1995) in der Erinnerungspolitik Kroatiens und der Krieg von 2014 in der Geschichtspolitik der Ukraine: Schlußfolgerungen aus einem Vergleich/ Polityka pamięci Chorwacji wobec Wojny Ojczyźnianej (1991–1995) i polityka pamięci Ukrainy wobec wojny od 2014 r. Wnioski z porównania)

Georg Zenkert (Heidelberg): Nation und Imperium: Machtkonstellationen im Umbruch

Panel V: Vergleichsbetrachtungen in ostmitteleuropäischen Kontexten

Błażej Brzostek (Warschau): Der Krieg in der Ukraine, Europa und Rumänien

Šarūnas Liekis (Kaunas): Der Krieg in der Ukraine, Europa und Litauen

Stefan Garsztecki (Chemnitz): Der Krieg in der Ukraine, Europa und Polen

Bence Bauer (Budapest): Der Krieg in der Ukraine, Europa und Ungarn

Pavel Usov (Warschau): Belarus und die Geostrategie im Kontext des Krieges in der Ukraine/ Białoruś i geostrategia w kontekście wojny w Ukranie

Panel VI: Die Souveränitätsfrage

Reinhard Mehring (Heidelberg): „Putins Krieg“ mit Schmitt. Überlegungen zur Aktualisierung von Carl Schmitts Lehre vom „Bund“ für die gegenwärtige Lage

Maximilian Raker (Vechta): Im Namen des Feindes. Der Feind als nominale Setzung

Bartłomiej Krzysztan (Warschau): Souveränität oder Unterwerfung: Der südliche Kaukasus im postkolonialen Diskurs über die postsowjetische Zeit im Kontext des Ukraine-Krieges/ Suwerenność vs. podporządkowanie: Południowy Kaukaz w dyskursie postkolonialnym o postsowieckości w kontekście wojny w Ukrainie